Es gibt einen Ort in Berlin, an dem hört man nichts. Keine streitenden Paare, keine Lautsprecherdurchsagen, keine Abrollgeräusche nasser Reifen auf dem Kopfsteinpflaster. Verschalt in Stahlbeton und Schaumstoff hört man im schalltoten Raum der Technischen Universität auch kein Gezwitscher, keinen Wind, kein Lachen spielender Kinder. Die ganze Kakofonie der Großstadt ist abwesend – als hätte sich eine meterdicke Schneedecke über die Welt gelegt.

»Wenn Sie hier eine Weile alleine drin bleiben und nicht sprechen, hören Sie irgendwann sich selbst«, sagt Roman Tschakert, der Leiter des Forschungsraums. Das Blutrauschen im Kopf, den eigenen Herzschlag, das schmatzende Klicken der Augenlider. Länger als eineinhalb Stunden hat das bislang niemand ausgehalten. Die Reaktionen reichen von unerklärlichem Unwohlsein über eingebildeten Druck auf den Ohren bis hin zu Anfällen von Klaustrophobie. »Endlich Ruhe!« ist ein Wunsch, den man im Moment seiner vollkommenen Erfüllung verdammt.

Im Verlauf der hier dokumentierten Recherche stellte unser Team 30 Menschen die Frage: »Wie klingt Berlin?«, »Wie klingt Zuhause?« Und: »Wie klingt Arbeit?« Die häufigste erste Antwort war Schweigen. Die schönsten anderen Antworten hören Sie hier:

Menschen beschäftigen sich viel damit, wie wir aussehen, als Einzelne, als Familie, als Stadt. Damit, wie wir klingen, beschäftigt sich nur eine kleine Gruppe von Experten. Dabei ist der Klang unserer Umgebung ein extrem einflussreicher Faktor für unser Befinden. Nicht nur, weil unsere Ohren immer offen sind, die falsche Geräuschmischung sogar krank machen kann. Sondern, so erklärt es der österreichische Komponist und Klangforscher Peter Androsch, »weil wir so sehr klingende Wesen sind wie hörende Wesen«. Wir wollen gehört werden. Wir wollen in Räumen sein, in denen man uns gut versteht. Nur die anderen hören, das wollen wir oft nicht. »Lärm ist das Geräusch der anderen«, so hat der Berliner Kurt Tucholsky das einmal zusammengefasst.

So wie alle Städte hat sich Berlin genau in diesem Spannungsfeld zwischen dem eigenen Klingen und der Beschallung durch den Anderen entwickelt. Zumeist zufällig ist dabei eine vieltönige Collage aus Menschen, Architektur und Maschinen entstanden. Dabei hat Berlin seinen ganz eigenen Klang hervorgebracht. Unser Team hat der Stadt ein paar Wochen lang seine Ohren geliehen und sich auf die Suche nach dem Sound dieser Stadt begeben. Auf dem Weg sind wir auf beeindruckende akustische Stilblüten und fehlgeplante Klangkatastrophen gestoßen. Ohren auf!

Ruhe im Beton

Blick in den schalltoten Raum der TU Berlin
Jetzt mal ganz leise! Im 8 mal 13 Meter großen schalltoten Raum der TU schlucken Schaumstoffkeile fast alle Geräusche.
Roman Tschakert
Wissen, was klingt. Roman Tschakert ist der Leiter des schalltoten Raumes.

Der schalltote Raum der TU ist ein guter Ausgangspunkt für die Suche. Erst wenn nichts klingt, lässt sich verstehen, was klingt. Das ist der wesentliche Nutzen dieses Laborraums, erklärt Messingenieur Tschakert in weichem fränkischem Akzent, als er die meterdicke Tür öffnet.

In dem Raum selbst betritt man keinen Boden. Die Füße treten auf ein dünnes Metallnetz, das nicht wirkt, als könne es tragen. Trotzdem gibt es kaum nach. Zum Boden sind es zwei Meter, fünf bis zur Decke. Sobald die Türschwelle überschritten ist, werden Tschakerts Erläuterungen seltsam. Seine Stimme verliert mit einem Mal jede Tiefe, jede Tragkraft. Alle Wörter sind stumpf. Es ist kaum möglich zu beurteilen, wie laut er redet. Nur wenn er aus der Nähe genau in Richtung des Zuhörers spricht, versteht man ihn deutlich. Wenn er hingegen in Richtung Wand spricht, hört man seine Stimme nur noch durch die Vibrationen seines Rückens. Wie er jetzt gleich zwei Mal erklären muss, weil er demonstrativ gegen die Wand redet.

Wände, Decke und Boden sind bedeckt mit 1,30 Meter langen Schaumstoffkeilen, die wiederum mit goldgrauem Spezialstoff bespannt sind. »Schallwellen haben je nach Frequenz eine unterschiedliche Länge«, beschreibt der Akustiker den Grund für die ungewöhnliche Wandgestaltung. »Während hohe Töne sehr kurze Wellen sind, die durch die Luft übertragen werden, sind tiefe Töne meterlang.« Um einen Ton zu verschlucken, muss sein Schall auf einen Gegenstand treffen, der so lang ist wie die entsprechende Schallwelle. Bei sehr hohen Tönen entspricht das schon den Bläschen im Schaumstoff, oder auch dem Profil von Raufasertapete. Sehr tiefe Töne hingegen müssen auf die vollen 1,30 Meter der Keile treffen, um nicht reflektiert zu werden. Noch tiefere Töne, unter 63 Hertz, können selbst hier nicht geschluckt werden.

Roman Tschakert führt durch den schalltoten Raum der TU und erklärt Schalldämmung.

In aller Stille werden hier am Institut für Strömungsmechanik und Technische Akustik Maschinen und Materialien vermessen. Damit sie weniger Lärm machen, oder um besser zu klingen. Neben Mikrofonen und Lautsprechern sind das zum Beispiel auch Computerdrucker. Oder Fenster und andere Baumaterialien.

Als wir nach einer Stunde wieder aus dem Lärmlabor treten, dröhnt uns schrill-surrend die Bohrmaschine der benachbarten Baustelle entgegen. »Mahlzeit!«, berlinert der Installateur von der Leiter herab. Nie hat sich eine Bohrmaschine, nie hat sich ein Gruß lauter angehört. Und nie waren diese Geräusche beruhigender.

Alle im Zelt

Großer Konzertsaal der Berliner Philharmonie von einem der höchsten Plätze aus gesehen
Demokratie des Klangs. Die zeltförmige Decke der Philharmonie verteilt den Schall gleichmäßig im Raum. So hört man auf allen Plätzen fast genau gleich gut.

Es gibt einen Raum in Berlin, an dem hört man alles. Entwickelt unter anderem an eben jenem oben genannten Institut der TU in den 60ern, wurde die Berliner Philharmonie zum Musterbeispiel akustischer Architektur. Dort, wo Albert Speer im Rahmen des NS-Projekts »Welthauptstadt Germania« Soldatenhalle aus dem Boden stampfen wollte, plante Architekt Hans Scharoun ein aus seiner Form heraus demokratisches Gebäude – den Augen wie den Ohren nach. Auf jedem Zuschauerplatz sollten die Interpreten annähernd gleich gut zu sehen und vor allem zu hören sein.

Weil die Position des Orchesters in der Mitte noch keine gleich gute Akustik auf allen Plätzen bedeuten würde, tat sich Scharoun mit Lothar Cremer, dem damaligen Leiter der technischen Akustik der TU zusammen. Um die für Orchestermusik ideale Nachhallzeit von zwei Sekunden zu erreichen, braucht man 1000 Liter Luft pro Person und dazu Wände, die den Schall gleichmäßig auf den ganzen Saal reflektieren. Scharoun wollte eigentlich eine Kuppel bauen. Als Cremer ihm sagte, dann würden nicht alle Besucher gut hören, disponierte er um.

Großer Konzertsaal der Berliner Philharmonie aus Sicht des Dirigenten
Zentralperspektive. Der große Konzertsaal aus Sicht des Dirigenten. Wie demokratisch ist es, in der Mitte zu stehen?

Heraus kam ein Gebäude wie ein Instrument. Eines, das wegen seines eigenen Klangs jede noch so alte Musik in die Gegenwart verwandelt. Die 22 Meter hohe Decke bietet das nötige Volumen, die verschachtelte Zeltform verteilt den Schall gleichmäßig. Hier kann nichts gespielt werden, als sei seit Bach nichts passiert. Auch »Ruhe auf den billigen Plätzen« ist im Zelt der Hochkultur nicht möglich. Jedes Räuspern oder zu heftiges Ratschen von grobem Stoff auf einem der 2250 Sitze ist im gesamten Saal zu vernehmen. Die demokratische Bühne ist zugleich ein akustisches Panoptikum.

Ludwig Falta hört, wenn etwas im Konzertsaal nicht stimmt. Er ist der leitende Gebäudemanager, wie sein beständig klirrender Schlüsselbund beweist. Seine Schritte fallen im gleichmäßigen dumpfen Rhythmus auf dem Teppich, wenn er durch die Labyrinthe der Klangkathedrale führt. Wenngleich er bei keiner Frage zögert, sehr klar spricht, jeden Fakt des Hauses auswendig kennt, redet er stets gedämpft. Als wir in den großen Saal gelangt sind, ist seine weiche Stimme nur noch knapp oberhalb der Schwelle des Flüsterns. Zu mächtig ist die Antwort der Architektur.

Ein Rundgang mit dem leitenden Gebäudemanager durch die akustischen Besonderheiten von Berlins Klangolymp.

Mit dem Wunsch nach demokratischer Akustik ergab sich ein neues Problem, erklärt Gebäudemanager Falta nun, während er in Richtung Decke deutet: Die Musiker hätten sich selbst nicht mehr gehört. Sie hätten in den Raum hinein gespielt, der Raum aber nicht geantwortet – ebenso wenig wie die Nebenspieler. Die Lösung waren zehn Reflektorensegel, die hoch über der Orchestertribüne hängen. Außerdem wurden die weinbergförmigen Zuschauerterrassen mit reflektierenden Brüstungen ausgestattet.

Wie ist es, einen großen Teil seines Lebens an diesem Ort zu verbringen? Falta, in der Mitte der Zuschauersitze von Block B stehend, sagt: »Ich finde den Saal am Beeindruckendsten, wenn alles still ist.« Eilig fügt er hinzu: »Es gibt natürlich wunderbare Konzertaufführungen mit hervorragenden Orchestern und unseren Philharmonikern.« Aber der menschenleere Saal, »so ganz ohne Störgeräusche, der hat eine ganz besondere Aura«. Keine Störgeräusche, das heißt auch, dass Falta und seine Mitarbeiter ihre Arbeit gut gemacht haben. Wenn ein Sitz knarzt oder eine Aufhängung quietscht, hört man das schließlich überall. Doch Ludwig Falta hört es für gewöhnlich zuerst. Kaum irgendwo sonst sind Klappstühle derart gut geölt.

Parlament und Straße

Rolltreppen im Berliner Hauptbahnhof
500 Millionen Liter Beton. Schallharte Materialien, darunter auch Glas und Stahl, machen den Haubtbahnhof zur hallenden Höllenmaschine.

»Deutschland hat es wohl als einziges Land geschafft, zwei Mal ein Parlament zu bauen, in dem man den Redner nicht hört«, sagt Klangforscher Peter Androsch in Linzer Mundart. Androsch, selbst Komponist, spricht im Grimm-Zentrum auf einem Kongress aus Architekten und Klangforschern. Er wurde unter anderem damit bekannt, dass er sich in Linz gegen die nervtötende Zwangsbeschallung in Geschäften einsetzte.

Mit dem Satz über die Parlamente hat er die Aufmerksamkeit des Publikums. Das Bonner Parlament, so Androsch, hatte eine derart miese Akustik, dass Siemens jahrelang vergebens versuchte, den schlechten Klang mit elektronischer Verstärkung auszugleichen. Was, fragt der Forscher, sagt es über die Architektur, wenn sich der Architekt offensichtlich nicht einmal Gedanken über das Wort »Parlament« machte, das doch auf das Sprechen verweist. Und was sagt es über die deutsche Demokratie, dass bei der Neugestaltung des Reichstags in Berlin abermals die Akustik vernachlässigt wurde? In dem Fall hören sich die Sprechenden kaum selbst.

Für Androsch ist gerade dieses Scheitern am Sprechen im Raum ein gutes Beispiel für das Scheitern des Sprechens über Raum. »Wir haben kaum Worte für den Klang von Gebäuden«, sagt er. Die, die wir haben, seien zumeist Vergleiche mit visuellen Eindrücken. »Klangbild« zum Beispiel, »lautmalerisch« oder »hellhörig«.

Thomas Kusitzky
Hört hin! Klangforscher Thomas Kusitzky will den Stadtklang gestalten.

Für Thomas Kusitzky liegen die Gründe für das häufige Scheitern der Architekten am Klang noch tiefer. Der Wissenschaftler schreibt derzeit an der Bauhaus-Universität Weimar seine Dissertation über die Möglichkeiten einer Stadtklanggestaltung. Nicht nur die Sprache über den Klang der Städte fehle, sagt der gelernte Musiker. Die Werkzeuge der Architekten seien allesamt stumm. An vielen Unis ist Akustik kein Pflichtfach für Architekturstudenten. Man kann den Klang eines Gebäudes aber nicht ohne weiteres an einem Modell sehen, ihn auch nicht zeichnen. Computermodelle zur Klangsimulation gibt es inzwischen zwar. Aber solche Software ist teuer, und der Umgang damit wird Studenten kaum beigebracht. So wird oft erst ein Gebäude gebaut, und dann versucht, die Akustik zu flicken.

Im Berliner Hauptbahnhof beispielsweise. Ein megalomanischer Innenhof wird von fünf Stockwerken gleichzeitig beschallt. Auf 70 000 Quadratmetern Geschossfläche schlagen täglich 1269 Züge und 54 Rolltreppen 300 000 Reisende um. Es gibt kaum Trennungen, kaum durchgezogene Decken. Dazu eine Glasröhre als Dach, die den Schall der oberen Gleise zurückwirft. Steht man mit geschlossenen Augen auf der mittleren Etage dieses Raumschiffs, vermischen sich Rollkoffer, Zugbremsen und Abluftanlagen zum Höllengetöse einer brachialen Maschine. »Ich glaube kaum, dass die Bahn das erreichen wollte«, sagt Kusitzky. »In den letzten Jahren hat der Konzern ja eher versucht, das Image eines lautlos dahingleitenden ICEs zu verkörpern.«

Der 40-Jährige fordert deshalb: Mehr zuhören! »Unbewusst gestalten wir alle die ganze Zeit den Klang der Stadt. Es ist wichtig, das endlich auch bewusst zu tun.« Dann hört man auch, was in Berlin besonders klingt.

Mit binauralen Mikrofonen haben wir fünf prägnante Straßen in fünf Berliner Bezirken aufgenommen und die interessantesten Stellen zusammengeschnitten. Hören Sie sich durch den Markt am Maybachufer oder die Allee der Kosmonauten!

In einem Innenhof in Kreuzberg, Yorckstraße, Ecke Großbeerenstraße, macht Kusitzky das vor. Innenhöfe, die sind für ihn typisch Berlin. In dem Hof klingt das Rauschen der Autos weit entfernt, ein paar übrig gebliebene Vögel piepsen vor sich hin, eine Lüftungsanlage wummert Luft aus einem Fenster. Das metallische Hämmern einer Baustelle dringt von ferne schwach herüber.

»Wenn man hier jetzt einmal in die Hände klatscht, dann hört man, dass ein Innenhof genauso seine Akustik hat, wie ein geschlossener Raum«, sagt Kusitzky. Der scharfe Knall aus seinen Handflächen prallt von den Häuserwänden ab, um kurze Zeit später zurückzukehren. Kusitzky nickt zufrieden. Berlin wurde zum größten Teil in Blockrandbebauung geplant, also in geschlossenen Häuserblöcken entlang der Straßen, mit Innenhöfen dahinter. Dadurch zerfällt die Stadt akustisch in die Klangwelten der Straßen und die der Höfe. Im Sommer, findet Thomas Kusitzky, ergebe sich hier oft eine angenehme Mischung aus Vogelgezwitscher, spielenden Kindern und Gesprächsfetzen. Die Höfe brächten etwas Dörflich-Ruhiges in die Stadt.

Schalltanker

Drei Menschen laufen im Dunkel des Berliner Wasserspeichers dem Licht entgegen
Echo! In dem stillgelegten Speicher der Berliner Wasserbetriebe im Lichtenberg verharren Geräusche eine gefühlte Ewigkeit.

Um genauer zu verstehen, was glatte Wände für Klangkapriolen schlagen können, fahren wir mit Kusitzky nach Lichtenberg und dort zu einem der akustisch ungewöhnlichsten Orte Berlins. Unter dem Hügel, der dem Bezirk seinen Namen leiht, sind einige der größten Speicher der Berliner Wasserbetriebe angesiedelt. Riesige Maschinenhäuser aus Backstein künden von der Zeit, als noch kohlegetriebene Pumpen mit ohrenbetäubendem Lärm den notwendigen Druck in dem Zwischenpumpwerk erzeugten.

Norbert Weckwerth
Alles am Laufen halten. Norbert Weckwerth ist verantwortlich für die Wasserversorgung von einer Million Berlinern.
Wasser wird hier zwischengespeichert, um auf den Berliner Wasserbedarf mit all seinen Schwankungen zu reagieren, wie Werksmeister Norbert Weckwerth in reibendem Berlinerisch basst. »Wenn während der WM plötzlich alle gleichzeitig in der Halbzeit die Klospülung drücken, muss das Wasser ja irjendwoher kommen!«

Zwei der Reinwasserbehälter sind stillgelegt. In einen von ihnen steigen wir durch ein winziges oberirdisches Backsteinhäuschen hinab. Schon auf halber Treppe wird das Klapsen der Schuhe auf den Stufen zum körperlosen Echo. Unten angekommen, stehen wir in einem 60 Meter langen Tonnengewölbe aus Backsteinen, das an seinem Ende in einen weiteren gleich großen Teil des Behälters führt, der wiederum in einen dritten. Diese unterirdische Riesenschnecke ist das Gegenteil sowohl der wohltemperierten Philharmonie als auch des schalltoten Raums. Hier bleibt Klang einfach da. Auf ein lautes Hallo folgt so lange Echo, bis das Wort in geisterhaftes Schwirren verschwimmt. »Da Schallwellen an glatten Oberflächen abprallen, reflektieren Schallwellen hier so lange, bis ihre Energie irgendwann von der Luft geschluckt wird«, echot Kusitzkys Stimme mit ihrem leicht badischen Einschlag.

Bei der Blockrandbebauung wirkt das gleiche Prinzip, erklärt Kusitzky auf der Rückfahrt durch die Alleen der Ostbezirke: Entlang der Berliner Straßen bilden die Häuser Schluchten, in denen der Schall hin und her geworfen wird. Je glatter und härter die Wände der Häuser, desto schlimmer. Vor allem Autolärm wird dadurch lauter. Aber auch Sirenen, das Quietschen der Hochbahn oder Baustellenlärm bleiben gefangen. Die eher breiten Berliner Straßen tun ihr Übriges dazu. Bei neueren Autos ist es bei höheren Geschwindigkeiten nicht der Motor, der Lärm macht. Je schneller gefahren werden kann, desto lauter flatschen die beschleunigten Gummiteilchen der Reifen auf den Asphalt.

Klangforscher Thomas Kusitzky erklärt den Klang von Berlins Hinterhöfen und die Akustik des leerstehenden Reinwasserbehälters in Lichtenberg.

Das Ohr fühlt mit

Unterführung im U-Bahnhof Kottbusser Tor
Wer Angst hat, hört mehr. Der Hall von Schritten in Unterführungen kann nachts besonders bedrohlich wirken.

»Lärm ist überall«, sagt Brigitte Schulte-Fortkamp. Sie ist Psychoakustikerin und hat ihr Büro im TU-Gebäude gleich neben Roman Tschakerts reflexionsarmem Raum. Die Professorin hat den Großteil ihres Lebens mit der Erforschung der Auswirkungen von Klang und Lärm auf die menschliche Psyche verbracht – und findet ihn in einer Stadt erst einmal normal. »Die Leute reden, bewegen sich durch die Stadt, teils auch stark motorisiert«, sagt die Professorin.

Brigitte Schulte-Fortkamp
Klang und Gefühl sind nicht zu trennen. Brigitte Schulte-Fortkamp ist Psychoakustikerin.

Mit geübter Rednerinnenstimme sagt sie aber auch: »Ja, Lärm kann krank machen.« Für Fluglärm hat die große Lärmwirkungsstudie Norah jüngst insbesondere depressive Erkrankungen nachgewiesen, Straßenlärm kann vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Auch hat die Studie gezeigt, dass Kinder in lärmbelasteten Schulen schlechter Lesen lernen. Deswegen sei es durchaus wichtig, Lärm in Städten einzugrenzen, so wie das die 2000 erlassene EU-Umgebungslärmrichtlinie vorsieht. Schulte-Fortkamps Betonung liegt aber auf »kann«. »Die ganzen Baustellen und die Straßen und die Sirenen. Wenn man Berlin mag, dann kann man das irgendwie kompensieren.« Wer gerne in der Stadt lebt, den macht ihr Klang nicht einfach plötzlich krank.

Welche Geräusche wir als Lärm empfänden, hänge vor allem von der eigenen »Geräuschbiografie« ab. Welche Klangmuster sind mit welchen Erlebnissen verbunden? Lärm, sagt die Expertin, sind immer Geräusche, die für den Einzelnen nicht in eine Situation passen. Wer auf den Bus gewartet hat, den macht das sirrende Herbeibrummen des M41 froh. Wer einmal einen Hund hatte, den erinnert Dackelgekläff an schöne Zeiten. Und wer gerade einsam ist, den stört es vielleicht, seine Nachbarn beim Sex ekstatisch stöhnen zu hören.

Hinzu kommt, dass wir Klänge immer nur im Verhältnis zueinander wahrnehmen. Der sogenannte »Cocktail-Party-Effekt« ist ein Beispiel dafür: Obwohl bei Partys ein hoher Lautstärkepegel herrscht, können wir dennoch Gespräche am Nachbartisch verstehen – wenn wir wollen. Da man die Ohren weder verschließen noch drehen kann, hat das Gehirn gelernt, relevante Klänge aus den irrelevanten herauszufiltern.

Geräusche können auch Schutz bieten, erzählt die Forscherin. »Vor dem Berliner Dom etwa, gibt es einen großen Brunnen. Befragungen haben gezeigt, dass der Brunnen den Platz schön klingen lässt. Dabei ist der lauter als normaler Straßenverkehr.« Genau das jedoch erlaubt dort Privatsphäre. »Mal in Ruhe reden«, ohne Nebensitzer zu behelligen.

Wie klingt Ausgrenzung?

Verschiedene MindTags nebeneinander
Wo bin ich? Mit »MindTags« können Blinde per Smartphone Audio-Informationen über Orte abrufen, an denen sie sich gerade befinden.

Erich Thurner sieht fast nichts. Ein Prozent noch, um genau zu sein. »Soll ich euch mal einen Witz erzählen«, poltert der 47-Jährige: »Wofür haben Blinde einen Blindenstock?« Betretenes Schweigen. »Na, damit man sie besser unterm Elektroauto hervorziehen kann.« Thurner birst in schallendes Gelächter. Er ist gerade wieder auf dem Damm. Erst einige Tage zuvor wurden ihm die letzten Schrauben aus seinen sieben gebrochenen Rückenwirbeln gezogen. Er wollte mal wieder Fahrrad fahren. »Vielleicht nicht so eine kluge Idee für ’nen Blinden«, kommentiert der gelernte Jurist und Dolmetscher und gluckst schon wieder. Erich Thurner hat eine einfache Devise: Wenn er die Welt nicht sehen kann, dann soll die Welt eben mit ihm reden. Er hört sowieso mehr als Sehende.

Erich Thurner
Ich höre was, was du nicht siehst. Erich Thurner ist der Geschäftsführer von MindTags. Er ist zu 99 Prozent blind.

Autos zum Beispiel. »Saugeil, was sich Sounddesigner da inzwischen einfallen lassen.«, sagt er. Ein Audi A8 beispielsweise, da vermittle das dumpfe Zuschlagen der Tür schon das Machtgefühl, das das Auto auch visuell auszustrahlen versucht. »Innen, da soll man dann gerade noch ganz leise das Knirschen der Glasflasche hören, über die man tonnenschwer rollt.«

Thurner mag Berlin nicht für das Augenscheinliche. »Muss man die Berliner Fratzen wirklich sehen können, gerade im Winter?« Thurner hört der Stadt lieber zu. Und liebt Neukölln, »diese Mischung aus Obdachlosen und Prada mit all ihren Sprachen, die ich nicht verstehe«. Er liebt »das Rotzige der Berliner Schnauze« und die Brücke vor dem Bode-Museum. Dort könne man auf einen Vorsprung halb unter der Brücke klettern: »Über einem hört man die Touristen flanieren, und unter einem die Spree.« Was Thurner nicht mag: dass die Stadt immer ruhiger wird. Vor allem in den öffentlichen Verkehrsmitteln: Techno-Hörer in den Neuköllner Bussen und E-Book-Leser in der Zehlendorfer S-Bahn. Gefangen in ihren Kopfhörern und Displays rede kaum noch einer. Sagt Thurner.

Erich Thurner will nicht, dass viel für ihn getan wird. Er macht lieber selber. Und er will, dass das künftig mehr Blinde können. So hat er die Pflanzen im Botanischen Garten zum Sprechen gebracht und die Buslinie 100, das Tempelhofer Feld und die Berliner Mauer. Thurner und einige Mitstreiter haben »MindTags« entwickelt. Das sind kleine Plastikkärtchen, die fast überall angeklebt werden können. Auf ihnen befinden sich ein QR-Code, Blindenschrift und Profilschrift, innen ein NFC-Sensor, wie er auch in kontaktlosen Kreditkarten verbaut ist. Wo immer diese MindTags angebracht werden, kann man sein Smartphone in die Nähe halten und so Informationen über den Ort hören. Das geht an Sehenswürdigkeiten genauso wie im Behördenlabyrinth: »Raum Nummer 113, Max Schimmelpfennig, Sachbearbeiter für Steuererklärungen.« Zum Beispiel.

Erich Thurner muss sich auf sein Gehör verlassen. Mit S-Bahn und M41 nimmt er uns mit auf seinen Weg von Friedrichshain nach Neukölln – und erzählt von MindTags und den Widerständen gegen solche Hilfe für Blinde.

Würden seine Tags an allen Ampelmasten angebracht, so könnte auf ihnen jeweils abrufbar sein, welche wichtigen Orte in der Nähe sind. Ob es dort eine Apotheke gibt oder einen Bankautomaten. Bei dem Ampelmastenhersteller, dem er das vorschlug, stieß die Idee auf wenig Begeisterung. Zu viel Aufwand. Anwohner beschwerten sich oft schon über das Klicken von Blindenampeln. Auch Informationen zu den Tieren im Zoo wollte Thurner mal anbringen. »Was soll denn ein Blinder im Zoo?«, habe ein Verantwortlicher gesagt. Auf »seine Tafeln« kämen jedenfalls keine Sensoren.

Ruhe am Ende der Stadt

Blick von der Straße aufwärts in eine Häuserschlucht
Der Klang der Straße. In Berlin führt die Blockrandbebauung dazu, dass der Schall in den Häuserschluchten hin und her geworfen wird. Je glatter und härter die Häuserwände, desto lauter.

»Zu einem Begriff von Stadt gehört auch das Recht, Lärm zu machen«, sagt Urs Walter in seinen Telefonhörer in Kairo. Er lehrt dort gerade an der Deutschen Universität. Bis 2014 lebte er in Berlin, forschte länger zum Klang der Stadt.

»Man kann Leuten vorwerfen, dass sie in der Stadt so leben wollen wie auf dem Land«, sagt Walter, indem seine warme Stimme die Wörter behutsam einzeln betont. Inzwischen zögen viele Besserverdiener in die Innenstadt, die früher an den Stadtrand gezogen wären. »Sie wollen dort aber die gleiche Ruhe wie im Reihenhaus.« Daraus entstünden gleich mehrere Widersprüche. Einerseits würden in hochpreisigen Neubauten vielfach glatte Böden und dreifachverglaste Fenster verbaut. Während man durch die Fenster viel sehe, höre man die Geschehnisse auf der Straße nicht mehr. Das sei für die meisten Bewohner verstörend und könne sogar Gefühle von Isolation auslösen. Gleichzeitig werde durch große Glasflächen außen und innen der Schall stärker reflektiert. Kurz: Auf der Straße wird es lauter, innen hallt es. »In solchen Häusern nehmen die Beschwerden über laute Nachbarn dann zu«, sagt der 40-Jährige. Weil man von draußen nichts mehr hört, hört man die Nachbarn noch mehr als zuvor.

Während die einen so in zunehmend isolierten Wohnkapseln über ihre Nachbarn schimpfen, müssen diejenigen, die sich das nicht leisten können an die wirklich lauten Orte ziehen. An Autobahnen, neben S-Bahn-Gleise oder in die Einflugschneisen. Es hat sich noch niemand gefragt, was akustische Gentrifizierung bedeutet.

Wie aber gestaltet man nun einen Stadtklang, der den Bewohnern gefällt? Kann es da, angesichts der komplexen Verquickung von dem, wer wir sind, und dem, was wir hören, überhaupt eine einfache Antwort geben? Für eine besser gestimmte Stadt der Zukunft? Die Psychoakustikerin Brigitte Schulte-Fortkamp hat zumindest einen Vorschlag, der einfach klingt: Allen Bewohnern zuhören! Architekten und Planer sollten die Berliner akustisch mehr einbeziehen. Weil nur die Bewohner eines Kiezes wissen, welche Klänge bedeutsam sind für ihre kleine Stadtkomposition. Dazu können Marktschreier am Maybachufer genauso gehören wie das Klingeln der Tram in den Ost-Bezirken.

Der Londoner Produzent Tim Crombie macht normalerweise elektronische Musik unter dem Namen Only Rays. Vor zwei Monaten ist er nach Berlin gezogen. Er hat sich für uns gefragt, wie die Stadt wohl Musik machen würde. Dazu hat er ein Stück ausschließlich aus unseren Audioaufnahmen aus Berlin komponiert. Manche Klänge hat er bearbeitet – so, wie er sie empfindet.

Der Nachteil von Schall ist so auch sein Vorteil: Er kennt nicht die oberflächlichen Grenzen der Augen. Wenn wir selbst oder unsere Maschinen sprechen, dann weiten wir für einen Moment unseren Körper aus, wir stülpen ihn in die Stadt hinein. All die Stimmen und Schreie, das aufgeregte Klingeln der Smartphones, das depressive Blubbern der Kühlschränke und aggressive Poltern der Ringbahn. Das zusammen ist nicht nur der Lärm der Stadt. Das ist die Stadt. Und Beruhigung wäre da nichts Wünschenswertes. Es wäre das Ende von sozialen Aushandlungsprozessen, das Ende von Politik, das Ende aller überhörten Liebeserklärungen an diese Stadt. Es gibt einen guten Grund, warum »seine letzte Ruhe finden« den Tod bedeutet.